
Über die Würde des Menschen: Wie sie unser Leben lebenswert macht und was die Suche nach dem Sinn mit ihr zu tun hat
Allerheiligen naht, und da möchte ich ein nachdenkliches Thema aufgreifen. Heute geht es um die Würde, die dem Lebenssinn eine ganz besonders leise, aber glanzvolle Gestalt verleiht. Ich erzähle dir eine Geschichte, angelehnt an eine wahre Begebenheit:
Ein alter Mann lag krank in seinem Bett, und alle wussten, dass er sterben würde. Er jammerte und klagte ob seines Schicksals. Seine Familie stimmte mit ein. Alle jammerten, dabei war er ja noch gar nicht tot!
Da kam eine Weise daher. „Es ist so schlimm, dass ich sterben muss“, klagte er. „Es ist eine Tragödie, dass er sterben muss“, klagte die ganze Familie. Die Weise blickte in die verzweifelten Gesichter. Dann wandte sie sich an den alten Mann.
„Was war denn der Sinn deines Lebens?“, fragte sie ihn.
Der alte Mann dachte kurz nach. „Es war mir immer wichtig, ein guter Vater zu sein“, sagte er schließlich. „Für die Familie da zu sein.“
„Und was machst du jetzt, wo du am Sterbebett liegst?“
„Ach, was soll ich tun? Ich sterbe, ich bin für nichts mehr zu gebrauchen. Komme mir jetzt nicht mit Lebenssinn daher!“
„Aber du könntest doch auch jetzt noch ein guter Vater sein und für deine Familie da sein.“ Der Mann blickte fragend.
„Es könnte deine letzte Aufgabe sein, ihnen zu zeigen, was ein würdevolles Leben ist. Ein würdevolles Leben, das dem Tod mit Würde entgegenblickt.“
Der Mann dachte eine Weile nach, doch er wusste schnell, was er zu tun hatte. Er hörte auf zu jammern. Er sprach mit seiner Familie, versuchte sie zu trösten, sprach über den Tod und das Leben. Und seine Familienmitglieder hörten auf zu jammern. Sie waren traurig, dass der Familienälteste bald gehen würde, doch sie verbrachten von nun an eine gute, bereichernde Zeit mit ihm.
Der Mann hatte auch im Angesicht des Todes noch seinen Sinn im Leben gefunden.
Manche Geschichten haben es in sich, dass man am Ende ein großes „Ah!“ ausrufen möchte. Mir ging es so, als mir jener Therapeut diese Geschichte erzählte, der zu seinem Klienten – dem alten Mann – gebeten wurde. Seitdem kommt sie mir immer wieder in den Sinn, wenn ich wieder einmal verzweifle, weil sich die Welt gegen mich verschworen hat. Oder wenn jemand nicht aufhören will zu jammern, weil der Chef so gemein, die Kollegin nervig ist oder einen eine Krankheit plagt.
Sinnleere und wie wir darauf reagieren
In solchen Situationen ist es ganz normal zu jammern. Man fühlt sich vom Schicksal schlecht behandelt. Der Sinn kommt einem abhanden: Wofür soll eine Krankheit gut sein? Ein sadistischer Chef? Das ist nicht sinnvoll. Und so reagieren wir mit Schimpfen und Nörgeln, in weiterer Folge vielleicht mit Zynismus, offener Empörung – oder gar Apathie und Resignation, all das sind mögliche Signale für Sinnleere.
In Würde leben ist eine Entscheidung
Viktor Frankl beschreibt in seinem bemerkenswerten Buch „… und trotzdem Ja zum Leben sagen“ das Leben als KZ-Häftling*), jedoch aus psychologischer Sicht. Dort wurden die Menschen ob ihrer aussichtslosen Lage apathisch, zynisch, resigniert. Und doch erkannte Frankl:
Selbst dann, wenn einem offenbar nichts mehr bleibt als das buchstäblich nackte Leben, hat man immer noch die innere Freiheit zu entscheiden: Bleibe ich trotzdem Mensch? Behalte ich meine Würde? Man kann einem Menschen alles nehmen, schreibt er, nur nicht die letzte menschliche Freiheit, sich zu den gegebenen Verhältnissen so oder so einzustellen. Nur aufs eigene Überleben fokussiert sein oder doch, wenn möglich, einem noch Schwächeren sein Stück Brot abtreten. Oder auf die Geschichte oben bezogen: zu jammern, weil das Leben zu Ende geht, oder ein Vorbild sein bis zum letzten Atemzug.

Würde entsteht auf der Suche nach Sinn
Älter werdenden Menschen wird oft geraten, „in Würde zu altern“. Manche meinen, das wäre Blödsinn, sie hätten Lust auf Unfug und bunte Kleider und überhaupt auf alles, nur nicht auf langweilige Würde!
Ich glaube, dass sie die Würde da ein bisschen missverstehen. Würde heißt nicht, nur noch in Beige durch die Welt zu gehen und einen altmodischen Hut aufzusetzen, weil sich das für alte Damen so gehört. Würde heißt, dass wir uns nicht gehenlassen, dass wir am Leben teilnehmen in der Form, wie es uns möglich ist. Wie es uns sinnvoll erscheint!
Sinn kann ich leben, indem ich schöpferisch tätig bin – einem Beruf nachgehe, etwas auf die Beine stelle, künstlerisch oder wirtschaftlich etwas schaffe. Sinn kann sich auch im Genuss zeigen: die Natur genießen oder ein gutes Essen, indem ich ein Museum besuche oder ein Konzert. Doch selbst wenn all das nicht mehr möglich ist, bleibt mir immer noch die Suche nach dem Sinn, der sich in meiner Haltung zeigt:
Wie begegne ich dem, was ich gerade nicht ändern kann? Zetere ich – oder finde ich eine Antwort auf die Situation, die für mich sinnvoll ist?
Würdevolle Antworten finden
Der alte Mann lässt sich zu Beginn der Geschichte von der üblichen Frage leiten: Was will ich? Na was wohl, er will weiterleben. Doch das ist nicht möglich. Er wird mit der Sinnfrage konfrontiert, und das folgt einer ganz anderen Frage: Was will das Leben gerade von mir? Was so viel bedeutet wie: Ich anerkenne die Situation, wie sie ist – und frage mich, was das Leben jetzt Sinnvolles von mir braucht. Er hat seine Antwort gefunden.
Ich habe diesen Perspektivenwechsel bei meiner Existenzanalyse-Ausbildung als „existenzielle Wende“ kennengelernt:
Frage dich nicht „Was will ich?“,
sondern „Was will das Leben von mir?“
Probiere es aus, egal in welcher Situation. Du wirst merken, welchen Unterschied das macht. Wie sehr es dich in die Gestalterrolle führt! Und das ist es doch, was das Leben lebenswert macht: dass wir es gestalten können für mehr Buntheit und Abenteuer, Entspannung – und Würde.
*) Viktor Frankl: … und trotzdem Ja zum Leben sagen. Ein Psychologe erlebt das Konzentrationslager. Kösel, 6. Aufl. 1994 (es gibt eine neue Ausgabe 2024) Du kannst dir vorstellen, dass das keine allzu leichte Lektüre ist. Es ist trotzdem äußerst lesenswert – ein Mutmacher in schweren Zeiten.