
Ob Boomer, GenZ oder „die Alten“ – Schubladendenken macht das Leben kleiner, ungerechter und langweiliger. Warum unser Gehirn die Abkürzung liebt — und wie wir bewusst dagegensteuern können.
Schubladendenken, wohin ich derzeit schaue. In den Social Media lese ich über gute Verlags- und schlechte Selfpublishing-Autoren. Und in der Tageszeitung falle ich über einen Artikel zur Einteilung der Menschen in die „Generationen“ X, Y, Z, Millenials, Boomer. Amüsant irgendwie: Mittelscheitelträger und Bluse-teilweise-in-die-Hose-Steckerinnen wären typische Millenials, lese ich da. Die Boomer sind natürlich die, die unsere Umwelt zerstört haben. Und die GenZ hängt Tag und Nacht am Handy und will so wenig wie möglich arbeiten.
Bei gedankenlosem Schubladendenken werde ich böse. Auf der Stelle wird ein Kippschalter gedrückt und ich bin im Verteidigungsmodus. Im Auftrag der Diskriminierten. Sagt Robin Hood zu mir. 😉 Drum musste das Thema Altersdiskriminierung beispielsweise unbedingt in unser Buch über das gesunde, lange Leben.* Mein rotes Tuch diesbezüglich: Das Vorurteil, alte Menschen seien krank und könnten nichts leisten, einfach so kraft ihres Alters. Ein paar Falten im Gesicht, und zack!, schon bist du altes, unnützes Eisen.

Shortcut
Der Sinn des Schubladendenkens liegt darin, dass unser Gehirn auf Effizienz gebürstet ist. Schubladen geben uns Orientierung und vereinfachen komplexe Situationen.
Sie sind aber auch Ursache vieler Konflikte, machen unser Leben eintöniger. Die Vielfalt kommt uns abhanden.
Wie wir mit unseren eigenen Schubladen bewusst umgehen, erfährst du am Ende des Artikels.
Der Sinn des Schubladendenkens: Unser Gehirn mag es
Oben erwähnter Artikel hat meinen Fokus erweitert: Nicht nur Alte, sondern alle Generationen werden gern in Schubladen gesteckt. Denn mal ehrlich, was erwartet man denn, wenn man einem GenZler gegenübersteht? Dass er sich in Sachen digitale Welt auskennt. Digital Native eben. Dass er verwöhnt ist und keinen beruflichen Ehrgeiz hat. Da staunt man dann schon sehr, wenn man einen 20-Jährigen beobachtet, wie er sich in den Social Media überhaupt nicht „wissend“ aufführt. Und erst recht, wenn er ehrgeizig eine eigene Bude gründet und Unternehmerin wird.
Husch, husch, in die Schublade, möchte man sagen.
Tut man natürlich nicht. Aber unser Gehirn hätte schon eine Freude. Unser Gehirn hat täglich tausende Dinge zu verarbeiten. Deshalb freut es sich über jede Abkürzung, und Schubladendenken ist so eine Abkürzung. Sie macht das Gehirn effizient. Das ist super, weil dadurch können wir oft schneller Entscheidungen treffen. Schubladen geben uns Sicherheit und Orientierung und sie reduzieren energieraubende Ambivalenzen.
Unser soziales Gewissen sollte Schubladen nicht mögen
Schubladendenken macht mich – trotz aller evolutionär bedingter Effizienz – auch traurig, weil es so unfair ist. Weil es uns oft genug in eine Sackgasse führt. Es gaukelt uns vor, dass die Welt trivial ist und durchschaubar. Wir meinen, dadurch unseren Alltag besser bewältigen zu können: Der ist ein Ausländer? Will mich sicher nur ausnutzen, also nichts wie weg. Die 65-jährige Coach? Die buche ich lieber nicht, weil die ist bestimmt nicht mehr belastbar und dauernd krank.
Mit Schubladendenken legen wir uns oft auch selbst ein Ei, manchmal mit kuriosem Output.
Der 70-jährige Unternehmensberater, der die KI unreflektiert in den Himmel lobt, weil er Angst hat, dass er mit Skepsis zum alten Eisen abgestempelt werden könnte. Ist er dadurch glaubwürdig? Ich bezweifle es. Oder die ältere Dame im kurzen Mini und High Heels, weil sie sich so jünger wähnt. Schon allein bei der Vorstellung hoher Absätze bekomme ich Knieschmerzen! Natürlich leider auch: Man wird mitunter komisch angeschaut, wenn man die Wohnung einem jungen, türkischen Pärchen vermietet – ob man keine Angst vor Verwüstung hätte. Kopfschüttel. Hätte ich abgelehnt, hätte ich die verlässlichsten Vermieter, die ich je hatte, nie kennengelernt.
Puff! Wenn sich die Schublade in Luft auflöst
Nix gegen kurze Minis. Ich mit meinen 62 Jahren trage auch ab und zu gern Röcke mit Saum oberhalb der Knie, weil ich mich darin wohlfühle. Und ich werde mich bestimmt niemalsnienicht in Beige kleiden, weil das einfach nicht mein Geschmack ist. War es nie, also warum sollte sich das ändern?
In Elke Heidenreichs Buch** habe ich es so ähnlich gelesen: Wer sein Leben lang stur und eigensinnig war, wird im Alter nicht plötzlich lieb und sanft werden und umgekehrt. Elke muss es wissen, sie ist schon über 80. Also von wegen Altersmilde und Altersgrant. Junge haben das Recht auf Grant ebenso wie Alte auf kreative Leichtfüßigkeit.
Jedes Mal, wenn irgendwo eine Schublade verpufft, freue ich mich. Wenn ein 20-Jähriger ebenso leidenschaftlich gern Socken strickt wie meine 90 Jahre alte Mutter, die Stunden unter ihren Wollbergen verbringt. Wenn manche 40-Jährigen ein langweiligeres Leben haben als 70-Jährige, die sich engagieren, weiterbilden, Neues kennenlernen. Auch wenn ihnen öfter die Knochen wehtun, als ihnen lieb ist. Oder wenn 80-Jährige verliebter in die neuesten digitalen Gadgets sind als jemand mit 25. Ach ja, und ein Rundblick in meinem Gym bestätigt:
Man kann mit 60 fitter und knackiger sein als mit 35. Just saying.
Ich freue mich darüber, weil die Welt dadurch bunter wird. Weil ihre Vielfalt sichtbar wird. Ja, vielleicht ist sie anstrengender so. Aber hey, ein bisschen Anstrengung, ein bisschen Unbequemlichkeit, das hält jung. Nachweislich! Findest du in unserem Buch.*
Aus der Reihe tanzen
Natürlich sind wir alle nicht vor Schubladendenken gefeit. Auch ich natürlich nicht. Wo ich mich aber sehr bemühe: mich zumindest nicht selbst in eine Schublade stecken. Das gelingt mir ganz gut, meinem gut ausgeprägten Eigensinn sei dank. „Jessas, in meinem Alter zahlt sich eine Weiterbildung doch gar nicht mehr aus! Schade ums Geld!“ sind Aussagen, die man von mir bestimmt nicht hören wird. Und wenn meine Nachbarin mir erzählt, sie hätte gern diesen schönen Mantel, den sie kürzlich in der Auslage gesehen hat, aber in ihrem Alter zahle sich das doch nicht mehr aus – ja, wenn sie mir das erzählt, dann muss ich ein bisschen provokant werden. Na hoffentlich sterben Sie dann aber auch wirklich bald!
Scherz natürlich.
Wir haben es in unserem Buch* beschrieben: Sich das Alter auch nur einzureden, macht schon alt. Und ist der gesunden Langlebigkeit im Übrigen überhaupt nicht zuträglich! Neugierig bleiben, das ist der Jungbrunnen, und sich gerne überraschen lassen. Beides gelingt am allerbesten, wenn man sämtliche Schubladen weit aufzieht und den Inhalt fliegen lässt. Ein bisschen Chaos muss man vielleicht in Kauf nehmen. Aber wer sich selbst gut vertrauen kann, wer an seine Selbstwirksamkeit glaubt, der hält das schon aus.
Raus aus dem Schubladendenken – eine Anregung
Was wäre, würden all diese Generationenkategorien gar nicht stimmen? Wenn sie alle viel heterogener wären als definiert? Gut, alle Marketingfuzzis hätten dann ein Tool weniger für ihre Zielgruppenanalysen. Aber was würde bei dir, bei mir, bei der Nachbarin im Alltag anders sein?
- Es gäbe mehr Komplexität, aber auch mehr Vielfalt, mehr Abwechslung im Leben.
- Es gäbe weniger Orientierung, aber auch viel weniger Vorurteile.
- Es gäbe auf jeden Fall weniger Konflikte.
Hier sind ein paar Anregungen, wie du bewusster mit deinen Schubladen umgehen kannst:
Der schnelle erste Eindruck. Achte darauf, wie schnell du bist mit deinem Urteil. Worauf gründet es sich? Denk mal kurz drüber nach.
Immer eine zweite Chance. Als ich im Recruiting arbeitete, war das mein tägliches Spiel, das ich sehr mochte: im Gespräch mit Bewerbern den ersten Eindruck erstmal zur Seite schieben und noch einmal unvoreingenommen auf die Person schauen. Was erkenne ich noch?
Etiketten lösen. Bei jedem Gedanken „das ist ja typisch X!“ bestens geeignet: Was weiß ich über diesen Menschen? Welche andere Erklärung könnte es für sein Verhalten geben?
Ins Gespräch kommen. Du weichst alten/jungen/dicken/dünnen Menschen aus? Dann such erst recht das Gespräch mit ihnen. Deine Schubladen lässt du zu Hause. Wetten, du wirst deine Meinung verändern?
Freue dich über Irritationen. Alles, was nicht in dein Konzept passt, verdient deine besondere Aufmerksamkeit. Nutze diesen Wachrüttler und schau genauer hin!
* Pucher, Barilits: Raus aus der Hängematte, rein ins fitte Leben. Edition sinn+stift BoD 2025
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** Heidenreich: Altern. Hanser 2024. Absolute Leseempfehlung für alle, die diversen Vorurteilen gegenüber dem Altwerden nicht auf den Leim gehen wollen. Hier geht’s zum Verlagsshop.






