Unzufrieden mit dem Leben? Probleme mit bestimmten Mitmenschen? Depressiv, weil scheinbar nichts gelingt? – Dann wirf einen Blick in deine Biografie, und versuche, sie zu verstehen. Denn alles, was du heute entscheidest und tust, hat seinen Ursprung in deiner Vergangenheit.
Letzten Mai (2024) nahm ich am Kongress der GLE teil, der Gesellschaft für Logotherapie und Existenzanalyse. Es ging um das Thema „Lebensgeschichte gestalten – Biografie und Freiheit im existenzanalytischen Verständnis“. Abgesehen vom sperrigen Wort „existenzanalytisch“: Klingt das nicht vielversprechend? Es impliziert erstens, dass ich nicht Spielball meines Lebens bin, sondern es selbst gestalten kann. Und zweitens, dass es Freiheit bringt, wenn ich mich mit der eigenen Biografie beschäftige.
Ich meinerseits bin schon früh draufgekommen, dass ein Blick in meine Lebensgeschichte mir weiterhilft. Und zwar tat ich das immer dann, wenn ich irgendwo festhing. Liebeskummer, Konflikte mit dem Elternhaus, berufliche Fragen, aber auch plötzlich auftauchende Prüfungsängste oder das Hadern mit chronischen Schmerzen und viele andere Gründe gab es. Jedes Mal hat mir der Blick auf meine Vergangenheit – in Begleitung einer Psychotherapeutin – Antworten gegeben. Mir geholfen zu verstehen, warum ich so und nicht anders (über-)reagiere, was dahintersteckt, dass mich etwas traurig macht oder ärgert oder ängstigt, das andere gar nicht traurig oder ärgerlich oder beängstigend finden.
Wie unsere Biografie geschrieben wird
Mag sein, dass einem so etwas egal sein kann. Ich bin da anders gestrickt. Ich will verstehen, denn dann habe ich etwas Greifbares, das mir Sicherheit gibt für meine nächsten Handlungen und Entscheidungen. Und die Seele ist ein weites Land, wie wir seit Schnitzler wissen, da kann ich immer wieder neue Haltegriffe finden, die mir auf meinem Weg weiterhelfen.
„Biografie“ schlage ich zur Abwechslung einmal nicht im www, sondern im Brockhaus nach – ein Griff in meine Vergangenheit sozusagen, als man sich das noch nicht vorhandene Internet in Form von gewichtigen, goldgeschnittenen Lederbänden ins Haus holte. Biografie also ist die „Darstellung der Lebensgeschichte eines Menschen sowohl hinsichtlich der äußeren Lebensumstände und Ereignisse […] als auch der geistig-seelischen Entwicklung.“
Alles, was wir im Hier und Jetzt erleben und fühlen, ist immer gefärbt von unserer Biografie. Jemand, der mit permanenter Sorge pessimistisch auf die Dinge schaut, ist nicht schon so auf die Welt gekommen. Oder der ewige Grantscherben oder jemand mit Hang zur Depression. Geboren werden wir mit vollem Potenzial und dem Optimismus, dass das Leben wunderbar werden wird.
Die nicht so geglückten Spuren unserer Sozialisierung
Irgendwann aber wurde der Optimismus getrübt, die gute Laune ausgetrieben, das Gefühl vermittelt, nicht gut genug zu sein. Wir alle haben im Laufe unserer Biografie – meist schon als Kleinkind oder auch später – eine Art Überlebenstraining absolviert. Das ist ja auch nicht immer schlecht. Wir lernen, dass es keine gute Idee ist, auf die heiße Herdplatte zu greifen, oder wie man sich in Gesellschaft verhält, sodass man nicht zum Außenseiter wird.
Überleben, wohlgemerkt, und damit ist wirklich das Am-Leben-Bleiben gemeint. So lange es um die Herdplatte geht, ist ja alles gut. Doch für Kinder geht es bei vielen Dingen ums Überleben, die uns als Erwachsene gar nicht so gefährlich erscheinen. Von den Eltern zu oft abgewertet werden beispielsweise. In den Wünschen und Bedürfnissen nicht ausreichend wahrgenommen werden (oder auch das Gegenteil davon). Es gibt tausende solcher Dinge, wo Erziehung auch schiefgehen kann. Kinder entwickeln für solche Fälle Überzeugungen und Beschlüsse wie: Ich bin nicht gut genug. Es ist eh egal, was ich mir wünsche, also sage ich nichts. Oder beim Gegenteil: Ich bin der Nabel der Welt. Und die nehmen sie mit in ihr Erwachsenenleben, ohne dass es ihnen bewusst ist.
Beispiele gefällig? Stell dir vor, zwei fünfjährige Dreikäsehochs. Beide wollen die Welt erkunden oder zumindest diesen wunderschönen, großen Apfelbaum. Da wollen sie rauf. Mühelos schaffen sie den untersten Ast, der natürlich noch lange nicht das Ende ihrer Ambitionen ist. Sie schicken sich an, weiter nach oben zu klettern. Der Vater des einen Dreikäsehochs sieht das und lacht. „Super“, sagt er, „das schaffst du!“ Der Vater des anderen hat schon vorher mit Argusaugen sein Kind beobachtet. „Du könntest runterfallen“, ruft er jetzt. „Komm sofort runter da!“ Man kann sich vorstellen, wer von den beiden Kids später der Draufgänger und wer der Übervorsichtige werden könnte.
Die Vergangenheit verstehen, um die Zukunft zu gestalten
In der Biografiearbeit geht es darum, aktuelle Probleme mit solcherlei früheren Erlebnisse in Verbindung zu bringen. Unser Draufgänger hat vielleicht schon die dritte Geschäftsidee in den Sand gesetzt. Erst als er versteht, dass sein Vater ihn nicht nur zum Abenteuer, sondern oft auch zur Unvorsicht anspornte, wird ihm klar, dass er da etwas Entscheidendes lernen muss, damit sich seine Misserfolge nicht immer in Dauerschleife wiederholen. Unser Angsthase hingegen käme gar nicht auf die Idee, sich mit einer Geschäftsidee aufs Parkett zu trauen. Vorher muss er noch tausend Sicherheiten einholen, noch mehr sparen, noch eine Ausbildung und dann sicherheitshalber noch eine.
Die eigene Biografie zu verstehen heißt also nicht, dass man die Vergangenheit schlechtmacht oder die Eltern beschuldigt. Das wird manchmal gerne missverstanden. Eltern handeln normalerweise aus bestem Wissen und Gewissen heraus. Und auch sie haben schließlich eine Lebensgeschichte im Rucksack, die von Missverständnissen, Konflikten, „überlebensnotwendigen“ Beschlüssen und Einstellungen geprägt ist. Die eigene Lebensgeschichte zu verstehen heißt vielmehr, sich selbst besser kennenzulernen, sich näher zu kommen.
Biografie findet heute statt
Nicht zuletzt, um die Lebensgeschichte sinnvoller weiterschreiben zu können. Wenn wir uns von diesen früh geprägten Überlebensmustern befreien können, dann, ja dann haben wir erst die Freiheit, so zu sein, wie wir wirklich sind, authentisch. Dem eigenen Sinn entsprechend. Der Begründer der Existenzanalyse Alfried Längle fragte beim Kongress: Wie habe ich gelebt? Wie lebe ich es jetzt? Habe ich mich im Blick in meinem Leben? Da geht es um einen größeren Horizont.
Biografie, sagt er, ist nicht nur Vergangenheit. Biografie findet heute statt. Die Gegenwart ist der Zeitpunkt, wo meine Biografie wächst. Erst wenn wir die Zukunft miteinbeziehen, wird unser eigener Sinn, unsere Lebensgestalt sichtbar.