Lebensglück fällt einem nicht in den Schoß. Über den Sinn der Selbstverantwortung und wie sie zum gelingenden Leben beiträgt.

In meiner Heimatstadt Wien gibt es eine höchst zweifelhafte Antwort auf die Frage: „Wie geht es dir?“ – „Wie die anderen wollen“, heißt es dann. Oje, würde ich dann am liebsten darauf sagen, du armes Opfer, bist ja völlig abhängig!
Sage ich natürlich nicht. Aber ich frage mich schon, was hinter diesem Zugeständnis zur Abhängigkeit stecken mag. Und wie es auf uns wirkt. Fühle ich mich abhängig vom good-will der anderen, dann kann das doch kein freies, glückliches, langes Leben werden.
Weil Selbstverantwortung ein so wichtiges Konzept ist, haben wir es auch in unserem Buch*) besprochen. Hier ein verkürzter Auszug daraus.
Selbstverantwortung ist der Zwilling der Freiheit
Selbstverantwortung, sagt der Existenzanalytiker Alfried Längle, ist der Zwilling der Freiheit.**) Ich finde diesen Satz extrem hilfreich: Lange Zeit dachte ich, als selbstständiger Mensch hätte ich alle Freiheiten. Für mich war das verbunden mit „tun, was mir Spaß macht“, mit „in den Tag hinein leben“, ein bisschen zumindest. Bis ich feststellte, dass ich vor allem für meine eigenen Vorhaben ewig brauchte und manches nie fertig wurde, weil ich zu sehr meinen Hedonismus pflegte. Ist das der Preis der Freiheit? Oder ist Freiheit etwas ganz anderes? Es frustrierte mich, dass ich nicht weiterkam, sich meine Träume nicht verwirklichten.
Und dann dieser Satz von Längle.
Ja, wir haben die Freiheit zu tun, was wir für gut und wichtig halten. Was für ein Glück, in einem Land zu leben, wo das möglich ist. Und wir haben die Verantwortung dafür, dass wir aus dieser Freiheit heraus etwas Sinnvolles gestalten! Freiheit geht also nicht ohne Selbstverantwortung.

Freiheit verlangt von uns Entscheidungen
Freiheit ermöglicht es uns, unser Leben nach eigenen Vorstellungen zu gestalten. Das geht nicht ohne eigene Entscheidungen. Wenn ich beispielsweise einen cholerischen Chef habe, den ich kaum ertrage, dann liegt es schon an mir, diese Situation so zu gestalten, dass es mir besser geht. Kündigen wäre eine Möglichkeit, ihn mit diesem Problem konfrontieren eine andere, und wenn beides nicht geht, kann ich zumindest versuchen, mich auf die Suche nach seinen Vorzügen zu begeben, die er bestimmt auch hat, sodass sein cholerischer Wesenszug eine andere Färbung für mich bekommt und ich damit besser leben kann.
Dasselbe gilt auch für jeden kleinen Zipfel meines Daseins. Wenn ich mit einer Freundin essen gehe, wäre ich vermutlich empört, wenn sie über meinen Kopf hinweg für mich das Menü und die Getränke bestellte. Da fühlen wir uns schnell eingeschränkt. Fremde Entscheidungen sind in der DNA der Freiheit nicht vorgesehen (es sei denn, ich entscheide explizit, dass jemand für mich entscheiden darf).
Opferverhalten
Gleichzeitig sind Fremdentscheidungen superpraktisch. Wenn der Eintopf, den die Freundin für mich bestellt hat, grauenhaft schmeckt, kann ich sagen: Du bist schuld, dass ich nichts Ordentliches zu essen habe. Es ist ja doch viel angenehmer, einen Sündenbock zu haben, als sich einen eigenen Fehler einzugestehen.
Das nützen wir öfter aus, als wir denken.

· Selbstverantwortung für deine Gesundheit
Stell dir vor, du hast Rückenschmerzen und gehst zum Arzt. Der gibt dir als Erste Hilfe eine Spritze und rät dir dringend zu mehr Bewegung und weniger Sitzen. Was du natürlich nicht beherzigst, schließlich hat er dir eine Spritze gegeben, die muss doch helfen. Nach zwei Tagen lässt die Wirkung nach und du beschwerst dich. „Kein Arzt hilft mir“, klagst du. Selbstverantwortung für den Rückenschmerz? Ach wo. Für die Gesundheit sind die Ärzte doch schließlich zuständig, oder?
· Mein Mann ist schuld, dass ich nicht glücklich bin
Schuldzuweisungen mangels Selbstverantwortung sind auch sehr beliebt in Liebesbeziehungen. Es läuft nicht gut, der Partner nervt. Also ist er schuld daran, dass ich nicht glücklich bin. In Sachen Selbstverantwortung und Liebe kann man ganze Bücher schreiben, an dieser Stelle daher nur so viel: Es gehören immer zwei dazu, fürs gemeinsame Glück genauso wie fürs gemeinsame Unglück. Beide tragen Verantwortung!
· Ich hatte eine schwierige Kindheit
Du findest, deine Eltern sind schuld, dass du kein Glück in der Liebe hast, unter Depressionen leidest, keinen guten Zugang zu Ernährung und Sport hast? Vielleicht haben sie sich zu wenig um dich gekümmert, vielleicht waren sie mehr mit sich selbst beschäftigt als mit deiner seelischen Entwicklung. Sie haben durch die Erziehung ihren Teil dazu beigetragen, dass du der bist, der du bist.
Gestalten statt leiden
Wie du aus solcherlei Opferverhalten rauskommst? Nun, wenn du beim Lesen bereits mehrfach heftig mit dem Kopf genickt hast, hast du den halben Weg ja schon hinter dir. Selbsterkenntnis ist der erste Schritt zur Besserung! Nehmen wir ein Beispiel von oben:
Selbstverantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen heißt: Der Arzt, die Ärztin hat Fachwissen, Gerätschaften, Heilmethoden, die ich nicht habe. Er/Sie kann aber meinen Körper nicht fühlen, das kann nur ich. Und nur ich kann meinen Lebensstil verändern. Der Arzt, die Ärztin kann nur Empfehlungen abgeben. Tun muss es schon ich selbst.

Selbstverantwortung heißt nicht, alles alleine zu stemmen
Selbstverständlich braucht man für Gesundheitsfragen fachlichen Beistand. So wie man in vielen anderen Situationen allein nicht weiterkommt. Doch Selbstverantwortung heißt ja nicht, dass man alles allein schaffen muss. Vielmehr geht es darum, dass man seinen Anteil am Ergebnis erkennt und übernimmt. Im Fall deiner Rückenschmerzen wirst du dir von einer Ärztin oder einem Therapeuten Hilfe holen – und du wirst darüber hinaus die nötigen Physio- und Kraftübungen machen. Und du wirst überlegen, wie du deinen Lebensstil, deine Gewohnheiten so verändern kannst, dass dein Rücken sich nicht länger beschweren muss.
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*) Pucher, Barilits: Raus aus der Hängematte, rein ins fitte Leben. Edition sinnundstift, BoD 2025
**) Alfried Längle: Sinnvoll leben. Eine praktische Anleitung der Logotherapie. Residenz Verlag 2018