Sich vom Mainstream abzuheben ist nicht nur in der Werbung sinnvoll. Wer Ecken und Kanten zeigt – und sie authentisch sind –, der zeigt seine Persönlichkeit. Und schärft gleichzeitig seine Meinung und Haltung zu bestimmten Themen.
Vor Kurzem ist ein Buch meiner Kollegin Maria Almana erschienen, ihr drittes in der Reihe „Eigensinn“. In diesem dritten Band geht es um den gelebten Eigensinn, und ich bin ein bisschen aufgeregt, weil ich mit meiner Geschichte auch drin vorkomme.*) Beim Schmökern durch die vielen anderen Lebensentwürfe (sehr bunt und lesenswert übrigens) ist mir eines stets begegnet: Jede und jeder zeigt ganz spezielle Ecken und Kanten. Manche schrill, manche still, manche mit viel Vernunft, manche fast beängstigend. In jedem Fall eine markante Handschrift, mit der sie bzw. er ihre Lebensgeschichte fortschreibt.
Doch wann hat jemand Ecken und Kanten? Einfach einen pinkfarbenen Glitzerhut aufsetzen, und gut ist es?
Sichtbare Statements
Wenn ich schon so frage, dann kann es damit wohl nicht erledigt sein, nicht wahr? Denn was, wenn ein Glitzerhut mir gar nicht steht? Oder wenn ich ein Typ bin, der (oder die) sich lieber in gedeckten Farben kleidet? Gut, könnte man sagen, dann fällt der pinke Hut noch mehr auf. Authentisch ist das aber dann nicht. Und es ist die Frage, ob ich mir damit dann einen Dienst erweise. Oder ob ich es überhaupt lange genug aushalte, mich ständig mit einem Ding auf dem Kopf im Spiegel zu sehen, der mir gar nicht passt.
Ich kenne Frauen, die sich immer in derselben Farbe kleiden, wenn sie öffentlich auftreten. Männer, die nur Mascherl, nie Krawatte tragen. Es gibt Menschen, deren Kleidungsstil hart am Farbkasten vorbeischrammt, und die dennoch toll darin aussehen. Warum? Weil das Gesamtbild stimmt. Es gibt Digitalisierungstypen mit rotem Irokesenkamm – auch das stimmig. Das Äußere muss halt zum Inneren passen, sonst wird’s schnell peinlich.
Haltung demonstrieren
Ähnlich mein Friseur. Er ist ein cooler Typ, dessen Äußeres für einen Friseur jedoch untypisch ist: schwarzes Baseballcap, Rauschebart und lange Haaren, deren Spitzen verzweifelt nach einer Schere schreien. Was ist das bloß für ein Friseur, werden manche vermutlich kopfschüttelnd sagen. Soll das ein Statement sein? Oder ist er nur zu faul für ein Styling?
Ich hätte gesagt, Ersteres. Auf diese Weise findet er ohne weitere Anstrengung seine Klientel (und nein, ich glaube nicht, dass er sich genau deshalb so stylt). Jedenfalls bin ich bei ihm genau richtig aufgehoben: Er ist einer, dem ich verraten kann, dass ich Friseurtermine hasse, ohne befürchten zu müssen, dass ich ihn damit beleidige. Er versteht’s, sagt er. Geht ihm genauso. Genau das suggeriert sein Look.
Eigensinn und Persönlichkeit
Damit zeigt sich auch, dass ein Outfit-Statement erst dann wirkt, wenn es mit dem Innenleben des Trägers oder der Trägerin zusammenpasst. Das in Harmonie zu bringen ist wohl der Schlüssel, der den Unterschied macht zwischen künstlichem Ich-bin-anders-Gehabe aus der Feder mancher Werbestrategen und glaubwürdigem Statement. Bei mir sind sämtliche Glitzerhut-Empfehlungen spurlos an mir vorüber gegangen. Denn ich liebe die Abwechslung. Immer Hut? Immer Orange? Hilfe! Ich konnte mich nicht einmal für meinen Autoren-Webauftritt für eine bestimmte Farbe entscheiden. Weshalb sie ziemlich bunt wurde. Für den Beweis bitte hier lang! www.daniela-pucher.at
Ecken und Kanten lassen sich nun mal nicht einfach verordnen. Auch nicht für den guten Zweck eines Alleinstellungsmerkmals als Selbstständige. So viel ist fix. Wer darauf reinfällt und nicht dafür sorgt, dass das Äußere zum Inneren passt, also zur Persönlichkeit, ist selbst schuld.
Das Kantige im Runden
Wie auffallend wäre mein Friseur in einer Rockerrunde? Gar nicht. Es braucht also einen bestimmten Rahmen, damit man den Eigensinn überhaupt bemerken kann. Auf diese wichtigen Umstand hat mich Maria Almana aufmerksam gemacht. Nur unter Klassik-Fans kannst du mit deiner Hardrock-Liebe anecken. In einem schrillen Umfeld wirst du mit deinem pinken Hut gar nicht auffallen. Dort kannst du unter Gleichgesinnten höchstens entspannen. Und dir deine Energie für den Diskurs mit Andersdenkenden aufheben.
Eckig denken
Aber man muss nicht äußerlich schillern und schreien, um Ecken und Kanten zu zeigen. Man kann auch durch die Art des Denkens und Kommunizierens klares Profil zeigen. Zu Österreichs berühmtesten Gerichtspsychiaterinnen zählt wohl Heidi Kastner. Ihre nüchterne, wertfreie Sicht auf große und kleine Verbrecherseelen und ihre erfrischend trockene Art, Tatsachen auf den Tisch zu legen, ist auffallend. Ich höre und lese sehr gern Interviews mit ihr. Manchmal weiß man nicht so recht, ob man lachen oder schockiert sein soll im Angesicht der oft tragischen Thematik.
Beim Denken und Haltungzeigen kommen wir in die tieferen Schichten der Ecken und Kanten. Denn eine Heidi Kastner kann nur deshalb so souverän mit ihrem Thema umgehen, weil sie es gut kennt und viel Erfahrung hat. Und auch für Kreativität und Innovation muss man eckig denken können. Wissenschaftlerinnen oder andere Fachleute tragen dann zur Entwicklung eines Fachgebiets bei, wenn sie neu und anders denken können. Wer sich nicht traut, scheinbar verrückte Gedanken zu äußern, wird da nicht so viel beisteuern können.
Altes neu denken und widersprechen
Oder auch zu widersprechen. An alle Harmoniesüchtigen: Das ist dir nicht in die Wiege gelegt. Ich meine die Harmoniesucht. Die wurde dir anerzogen. Widersprüche wurden dir abgewöhnt. Du solltest doch ein braves Kind sein, das keinen Ärger macht! Das nicht eigensinnig und aufmüpfig ist und aufbegehrt gegen die elterliche Instanz!
Doch Widerspruch kann man lernen. Und den Mut, unangenehme Dinge auszusprechen, ebenso. Nicht von heute auf morgen. Aber Schritt für Schritt. Ganz ohne Glitzerhut.
*) Maria Almana: Gelebter Eigensinn. Gespräche, Erinnerungen und Gedanken. Ein Streifzug | Infos zum Buch