Störrisch, unbelehrbar, dickköpfig, unnachgiebig, egoistisch. Gib zu, dass dir zum Wort Eigensinn genau diese Attribute zuerst einfallen. Dabei tun wir ihm unrecht! Ich bin ja gern eine Art Robin Hood der Worte und beäuge skeptisch den Bedeutungswandel, den so manches Wort über sich ergehen lassen muss. Eigensinn gehört zu meinen Favoriten. Überleg doch einmal:
Der eigene Sinn! Demnach bin ich doch dann eigensinnig, wenn ich meinem eigenen Sinn folge. Entscheidungen treffe, die für mich sinnvoll sind (und nicht, weil sie für andere bequem sind). Wenn ich das möchte, was mir guttut. Den Beruf oder das Hobby ergreife, das für mich Sinn macht.
Unzufriedenheit und Fremd-Sinn
Ich glaube ja, dass jeder Mensch von Geburt an eigensinnig ist. Wie sonst sollte er denn überleben? Ein Baby schreit, wenn es Hunger hat – sein Leben ist davon abhängig, dass es von anderen gefüttert wird, daher muss das auch ein Schreien sein. Und nicht etwa ein höfliches Aufzeigen. Das wäre von so manchen vielleicht sozial erwünscht, aber bis das einer mitbekommt, ist das Baby halb verhungert. Erst im Laufe der Zeit wird uns dieser Eigensinn ausgetrieben. Ja, ja, die Erziehung. Auch das Bildungssystem mag lieber die angepassten Kinder, und die meisten Unternehmen setzen in diesen Reigen ein, auch wenn in ihren Unternehmensleitbildern von „Kreativität“ und „Individuum“ die Rede ist.
So passiert es, dass viele es verlernen, dem eigenen Sinn zu folgen und sich lieber daran anlehnen, was andere für gut und richtig halten. Das ist ein bequemer Weg, und ich sage jetzt nicht, dass alle, die einen solchen Weg beschreiten, unglücklich werden. So einfach ist das nicht. Doch oft tun wir Dinge nur des Friedens willen. Oder weil wir glauben, dass das für jemand anderen gut ist (was sich mitunter als Irrglaube entpuppen kann). Weil wir Angst haben, ausgeschlossen zu werden. Oder ausgelacht.
Das eigene Leben nicht gelebt
Passiert das zu oft, bekommen wir schon einmal das Gefühl, das eigene Leben nicht gelebt zu haben. Tausend Dinge versäumt zu haben. Träume verloren zu haben. Zu kurz gekommen zu sein. Vor lauter Pflichterfüllung und Kindererziehung und Geldverdienen und was sonst noch wichtig zu sein scheint, haben wir die eigenen Wünsche links liegenlassen. Hallo Midlife-Crisis!
Dann stehen wir da, mitten im Leben, und sind frustriert. Haben das halbe Leben mehr im Sinne anderer gelebt als im eigenen Sinn. Und falls du jetzt Sorge hast, dass es hier um Egoismus geht: Nein, ganz eindeutig nicht. Es geht um Selbstfürsorge.
Eigensinn im Auftrag der Selbstfürsorge
Du kennst die Geschichte vielleicht: Das Notfallprogramm im Flugzeug sieht ganz klar vor, dass du zuerst dir selbst die Atemmaske umschnallst, bevor du sie dem ohnmächtigen Nachbarn überziehst. Eine Metapher fürs ganze Leben eigentlich. Denn nur wenn es dir gutgeht, du körperlich und auch psychisch gut genährt bist, bist du in der Lage, anderen zu helfen. Das findet sich sogar in der Bibel: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.“ Nicht „mehr als dich selbst“, sondern „gleich wie dich selbst“. Also: Schau auf dich.
Für ein erfülltes, ein gelungenes Leben
Daher ist es schlicht ein Akt der Selbstfürsorge, wenn du dich auf die Suche nach deiner inneren Logik machst: Welche Werte sind dir wirklich wichtig? Welche Glaubenssätze hast du übernommen, die das Ausleben deiner Werte verhindern? Was an deinem Leben magst du und was nicht? Welche Möglichkeiten siehst du, Verhaltensweisen und Gewohnheiten zu verändern, die du nicht magst?
Lass uns also den Eigensinn als das nehmen, was wortwörtlich drinsteckt, und ihn nicht mehr länger verpönen. Denn ich wette, auch darin liegt ein Verhinderer: der Glaubenssatz „Ich darf nicht eigensinnig sein“.
(Beitragsbild: pixabay_PDPics)